Die schwerste Last ist das leichte Gewicht einer zerbrechlichen Sensibilität
- Nib & Ember

- 26. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Erinnerst du dich an die Geschichte von Aladdin und seiner magischen Lampe mit dem Dschinn, der drei Wünsche erfüllt? Hast du dir jemals überlegt, was deine Wünsche wären? Ich, schon. Nicht drei, sondern einen ganz bestimmten – und ich habe ihn so leidenschaftlich erbeten, dass ich glaube, mein Wunsch ist endlich in Erfüllung gegangen: Ich habe so heftig darunter gelitten, zu emotional zu sein, dass ich nur noch darum gebetet habe, gar nichts mehr zu fühlen.
Ich bin überzeugt, dass es eine Art Krankheit ist, so ein Mensch zu sein, der alles so tief empfindet – und dass man das auch als solche behandeln sollte. Denn es geht nicht nur um das ganze Jahr meines Lebens, in dem kein Tag verging, an dem ich nicht vor lauter Weinen kaum Luft bekam; es geht nicht nur um Depression und aufdringliche Gedanken ans Sterben. Es geht auch darum, dass mein Körper unter dem Stress des „Nur-Fühlens“ zusammengebrochen ist; um die Hormontherapie nach einem Monat Blutungen; um die vielen Untersuchungen, weil ich mein Herz bis zum Hals schlagen spürte, und die Kabel, die im Jänner meine Brust bedeckten; um den Nebel in meinem Kopf und die Leere in meinem Blick. Letzten Herbst war ich so fertig, dass ich mich wundere, heute noch hier zu sein.
Es beginnt alles in der Kindheit. Menschen wie ich – der sensible Typ – sind besessen davon, menschliches Verhalten zu analysieren und Psychologiebücher zu lesen. Aber alle Bücher und Analysen, alle Therapien und das Verständnis dafür, was hinter den eigenen Gefühlen steckt, reichen einfach nicht aus. Und es wäre wahrscheinlich auch nicht so schwer zu ertragen, wenn wir nur mit unserer eigenen Zerbrechlichkeit zu tun hätten – doch das ständige Urteil von überall, das uns für unser So-Sein beschuldigt, uns bestraft, weil wir nicht pragmatischer und rationaler sind, macht uns nur noch unzulänglicher und einsamer.
In einer Gesellschaft, in der Menschen ihre Dates in einer Excel-Tabelle erfassen, bin ich die „Komische“, die Hunderte Seiten Tagebuch schreibt, um Sinn aus all dem zu machen. Denn, um ehrlich zu sein: Die Person, über die ich manche dieser Seiten schreibe, hat meinen Namen wahrscheinlich (falsch geschrieben) auf einem Blatt mit zwei Spalten – „Pro“ und „Contra“ – und ich schätze, eine dieser Spalten ist ziemlich leer. Die andere sehe ich dagegen grell vor meinen Augen blinken: nicht blond, nicht klein, nicht schlank, keine Asiatin, nicht blauäugig, nicht verschiedenfarbigäugig, nicht jung. Er hat mich schließlich „nicht so gemocht“. Fall abgeschlossen für die meisten. Nicht für mich … Denn für mich war dieser Mensch pures Sonnenlicht, der mir Freundlichkeit und Halt geschenkt hat. Meine Freundinnen fragten mich: „Bist du da immer noch nicht drüber hinweg?“ – erst warmherzig, dann genervt. Irgendwann wurde es zu „Immer noch?“, was mich nicht nur davon abhielt, weiter darüber zu reden, sondern mich auch mein eigenes Wesen verachten ließ, weil ich einfach nicht so „funktioniere“ wie sie.
Aber hier ist der Punkt: Diese Situation ist nichts Besonderes und hat im Grunde nichts mit einer bestimmten Person zu tun. Manche von uns brauchen einfach übermäßig viel Zeit, um die Realität zu akzeptieren und weiterzugehen. Ich habe mein Zuhause betrauert, nachdem meine Eltern es verkauft hatten, bis weit in meine späten Zwanziger. Es hat ein Jahrzehnt gedauert, bis ich wirklich alle Gefühle für meine erste Liebe verloren hatte. Im Schnitt brauche ich drei Jahre, um über eine zerbrochene Freundschaft hinwegzukommen. Ich kann immer noch nicht in meinen alten Bezirk fahren, ohne den Schmerz zu spüren, dass ich das Leben verloren hatte, das ich mir dort aufgebaut hatte.
Ich fühle einfach tief. Und meistens werde ich dafür von den Menschen, die mir am nächsten stehen, bestraft. Also stellte ich mir noch eine Frage, die mich nachts wachhält: Warum haben sich einige meiner engsten Freundinnen zurückgezogen? Wie kann man sagen, man liebt mich, und mich dann Schritt für Schritt auf Armlänge aus seinem Leben schieben, mich genau auf die Weise fallen lassen, die mir schon einmal so wehgetan hat – auf die Art, von der sie wissen, dass sie mich wertlos und gebrochen fühlen lässt?
„Menschen brauchen Abschlüsse“, war eine der Antworten, die ich bekam. Niemand hört gern immer wieder dieselbe alte Geschichte. Ich fühlte mich gefangen, eingefroren in der Zeit, während für alle anderen die Uhr weiterlief – und das einzige Gefühl, das mir Gesellschaft leistete, war eine überwältigende Schuld, nicht den Erwartungen anderer gerecht zu werden.
Zum ersten Mal in meinem Leben war ich still. Mir wurden die Worte geraubt, aber ich nahm das Schweigen wie eine Medizin. Ich zerdrückte und tötete meine Gefühle, kappte Freundschaften, löschte Nummern und Messaging-Apps, konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt, schaute, wer noch da war, und begann wieder aufzubauen. Und auch wenn mich noch gelegentlich Wellen von Selbstmitleid, Sehnsucht oder existenziellen Fragen wie „Was zum Teufel?!?“ überrollen, bin ich in den letzten zwei Jahren so sehr gewachsen, dass mir die Person, die ich war, fast leidtut – so naiv war ich trotz meines Alters.
Was mich nach all dem überrascht hat, ist die Erkenntnis, dass sensible Menschen zu den größten Zyniker:innen werden. Es ist irreversibel, weil es immer schon in uns war. Es ist nicht so, dass ich nicht durch den ganzen Blödsinn durchgesehen hätte; ich habe nur fast immer den Benefit of the doubt gegeben – auf meine Kosten. Gebete und Zauberlampen, Dschinns und Konfrontationen, Einsamkeit und Weisheit – ein Jahr, das dich fast umbringt, ist ein Jahr, das dich endlich widerstandsfähig macht.
Und ich bin nicht dankbar. Ich wünschte nur, ich hätte euch beide nie getroffen.
NIB and Ember




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